Liebe Leser,
nachdem wir uns in den letzten Beiträgen dieser Reihe mit Digitalisierung und Digitalität beschäftigt haben, geht es nun um die daraus resultierende Kultur der Digitalität. Auch sie ist nicht final definiert. Um eine Verbindung zwischen Digitalisierung, Digitalität und Kultur der Digitalität zu skizzieren, möchte ich auf ein einfaches, von mir entwickeltes Modell zurückgreifen, das soggenannte „TFK-Modell“. Es betrachtet digitale Prozesse aus den drei Perspektiven „Technologie“, „Funktion“ und „Kultur“. Die Perspektive der Technologie beschäftigt sich mit den technologischen Ressourcen, die digitale Aktivitäten überhaupt möglich machen. Mein Smartphone hat einen Touchscreen zur Eingabe von Daten. Es verfügt über eine Kamera. Es benötigt WLAN oder aber eine Sim-Karte um eine Verbindung mit dem digitalen Raum herzustellen und es benötigt Strom bzw. einen vollen Akku um überhaupt zu funktionieren.
Die nächste Perspektive ist die der Funktion. Damit sind alle Handlungen gemeint, die ich mit einer digitalen Technologie umsetzen kann. Beim Beispiel meines Smartphones sind dies die vielen unterschiedlichen Apps. So kann ich die Technologie „Kamera“ sowohl mit Adobe Lightroom als auch mit Instagram nutzen. Erst durch die Funktionen entsteht ein Mehrwert in der Nutzung der Technologie. Zudem findet hier eine Individualisierung von Digitalisierung statt. Ich entscheide, welche Apps. ich wann und mit welchen Zielen nutze.
Die dritte Perspektive ist die der Kultur. Hier geht es um zwei miteinander verbundene Fragestellungen. Zum einen geht es um die Frage, was es mit den Menschen macht, die diese Technologie mit ihren Funktionen nutzen. Welche (neuen) Denk- und Handlungsweisen, welche neuen Bedarfe und Bedürfnisse entstehen? Wie ändert sich ihre Wahrnehmung von der Welt und von sich selbst? Zum anderen geht es um die Frage, welche kulturellen bzw. systemischen Rahmenbedingungen vorhanden sein müssen, damit die Technologie und die damit verbundenen Funktionen Mehrwerte erzeugen bzw. die Bedarfe und Bedürfnisse der Nutzer:innen befriedigt werden können.
Das TFK-Modell hilft, die Idee einer Kultur der Digitalität besser zu verstehen. Nicht die Technologie, sondern die damit verbundenen Funktionen schaffen die Mehrwerte bzw. ermöglichen eine Problemlösung wie von Armin Nassehi beschrieben. Zudem wird erneut klar, warum die Kultur der Digitalität nicht auf Handlungen im digitalen Raum beschränkt ist. Die Denk- und Handlungsweisen, die durch die Nutzung digitaler Technologien entstehen, werden im Kontext digital-analoger Lebensrealitäten auch in den analogen Raum übertragen. Es ist dann grundsätzlich irrelevant, ob eine Bedürfnisbefriedigung im digitalen oder im analogen Raum stattfindet bzw. wird dies immer wieder neu von den Nutzer:innen bestimmt und in einem gesellschaftlichen Kontext immer neu ausgehandelt. Dieser Umstand sorgt aber auch dafür, dass die kulturellen/systemischen Rahmenbedingungen in den analogen Raum wirken bzw. zu einem Teil der digital-analogen Lebensrealität werden.
Ist alles digitale neu?
Es bleibt die Frage, inwieweit diese Ansätze wirklich neu sind? War die Digitalisierung der Auslöser für diese Kultur der Digitalität oder hat die Digitalisierung diesen Prozess nur verstärkt?
Vernetzung, Teilen, Transparenz etc. sind Modelle, die auch schon vor der „digitalen Revolution“ bekannt waren. Ich behaupte, diese Funktionen konnten sich in der prä-digitalen Ära nicht ausreichend entfalten. Zwar wurde seitens der Gesellschaft immer wieder versucht, solche Denk- und Handlungsweisen zu implementieren, jedoch gab es hier nur temporäre bzw. situative Erfolge. Nehmen wir als Beispiel die schon erwähnte Frage nach einem möglichen Verlust der Deutungshoheit bezüglich kultureller Inhalte durch klassische Kulturinstitutionen. Durch die Digitalisierung ist es möglich, immer neue Formen der Wahrnehmung kultureller Inhalte umzusetzen. Die vielen diversen Perspektiven auf Kunst und Kultur konnten durch digitale Plattformen kommuniziert bzw. wahrgenommen werden. Anders ausgedrückt: die Digitalisierung erzeugte einen erweiterten Optionsraum für die Wahrnehmung und Erschließung kultureller Inhalte, indem er Funktionen ermöglichte, die unterschiedliche Formen der Digitalität und damit verbunden eine darauf basierende Kultur hervorbrachten. Wären diese Funktionen komplett neu gewesen oder hätte es keinen Bedarf nach ihnen gegeben, wären die digitalen Plattformen, die auf diesen Funktionen basieren, nicht erfolgreich gewesen.
Armin Nassehi hat diesen Umstand ebenso beschrieben. Er trennt Digitalität (nicht eine Kultur der Digitalität) von Digitalisierung und behauptet:“(…) dass die moderne Gesellschaft bereits ohne digitale Technik in einer bestimmten Weise digital ist bzw. nur mit digitalen Mitteln verstanden werden kann.“ (Nassehi 2022 S. 13). Er trennt Funktion von Technologie. Das besondere daran ist, dass die Funktion bereits vor der Technologie existierte und durch die Technologie „nur“ erweitert wurde. Anders ausgedrückt: der Optionsraum der Funktion wird durch die Technologie erweitert. Dieser neue Optionsraum erzeigt aber nunmehr neue Funktionen, vor allem dann, wenn in der Übersetzung der analogen Form, des analogen Prozesses die Logiken des Digitalen übernommen werden oder gar völlig neue digitale Prozesse und damit verbunden Logiken entstehen. Diese Erkenntnis ist wichtig, denn wir können erkennen, dass die Digitalisierung unserer Gesellschaft nicht „übergestülpt“ wurde. Sie ist kein Fremdkörper, dem wir uns anpassen müssen. Die Digitalisierung basiert vielmehr auf Mustern, Bedürfnissen und Bedarfen, die seit langer Zeit vorhanden waren.
Kultur der Digitalität und Next Society
Kommen wir nun zur Frage der Verbindung einer Kultur der Digitalität und der Idee einer Next Society. Schon diese Fragestellung ist spannend, denn es gibt keine klare Definition dessen, was eine Next Society überhaupt ist oder sein kann. So wäre es möglich zu behaupten, dass jede Form von zukünftiger Gesellschaft so oder so eine Next Society ist, da sie aufgrund der anstehenden Herausforderungen anders sein wird, anders sein muss als das, was wir heute als Gesellschaft erleben. Aber diese Definition greift zu kurz. Ihr fehlt das handelnde bzw. gestaltende Element.
Wenn wir eine Next Society aus Sicht einer Kultur der Digitalität betrachten, dann geht es dabei nicht um konkrete inhaltliche Ziele. Es geht nicht darum, festzulegen, dass eine Next Society beispielsweise klimaneutral handelt. Es geht vielmehr darum, eine Gesellschaft zu entwickeln, die grundsätzlich in der Lage ist, eben solche Herausforderungen wie den Klimawandel zu meistern, ohne dass wir wissen, welche Herausforderungen dies im Detail sein werden und wie mögliche Lösungsszenarien aussehen. Es geht nicht um den Output, sondern um die Prozesse, die Denk- und Handlungsweisen. Und in diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Bedeutung eine Kultur der Digitalität haben könnte oder sollte.
Von der Next Society zur Next Digital Society
Die Next Society ist eine Next Digital Society. Diese Aussage erscheint trivial ist aber von großer Bedeutung für eine andere Perspektive auf Kulturpolitik. Wenn ich sage, dass eine Next Society eine Next Digital Society ist, meine ich damit nicht, dass Digitalisierung die Lösung unserer Probleme darstellt. Ich rede nicht von einer digitalisierten/technisierten Next Society.
Die digitalen Technologien ermöglichen die Verarbeitung von noch mehr Daten, sie ermöglichen noch mehr Vernetzung, sie ermöglichen einen erweiterten Umgang mit Komplexität, aber sie erschaffen auch neue Muster und einen erweiterten Optionsraum. Wenn wir heute über die Transformation unserer Gesellschaft und/oder des Kultursektors sprechen, dann ist es wichtig zu unterscheiden zwischen Transformation aufgrund Digitalisierung und Transformation durch Digitalisierung. Die Next Society ist eine Next Digital Society, weil sie zum einen durch die Kultur der Digitalität geprägt und herausgefordert wird und zum anderen, weil sie mittels der Kultur der Digitalität und der Digitalisierung als Tool agieren und existieren kann.
Kulturpolitik im Zeitalter der Next Digital Society
Was bedeuten diese Punkte für eine gerechtere Kulturpolitik im Kontext einer Next Society? Ich möchte die von mir skizzierten Modelle und Ansätze nutzen, um ein Bild eines Optionsraumes für eine erweiterte Kulturpolitik zu entwickeln.
Ich möchte hier nicht die Frage diskutieren, wie einzelne digital-analoge Projekte im Kontext von Kultur und Next Society aussehen (könnten). Es ist überall ersichtlich, dass es im Kultursektor viele kreative Menschen mit spannenden Projekten und Ideen gibt. Ich behaupte aber, dass die systemischen Rahmenbedingungen im Kultursektor verhindern, dass diese Einzelprojekte von Einzelpersonen oder Gruppen eine weitergehende Wirkung erzeugen oder gar gesellschaftlich relevant sein können. Damit man mich nicht falsch versteht: Ich habe allergrößten Respekt vor den vielen Menschen und Projekten im Kultursektor im Kontext der Digitalität. Jedoch handelt es sich hierbei zumeist um Einzelprojekte, die zudem zumeist auf temporären Förderprogrammen basieren. Von einer Kultur der Digitalität als Querschnittsfunktion im Kultursektor und der Kulturpolitik kann jedoch keine Rede sein. Und hier muss überlegt werden, inwieweit eine „Next Kulturpolitk“ benötigt wird, um hier Veränderungen zu ermöglichen. Anders ausgedrückt: ich behaupte, dass die aktuelle Kulturpolitik nicht in der Lage ist eine Kultur der Digitalität als Querschnittsfunktion zu denken und dies im Kontext einer Next Digital Society zu unterstützen.
Im nächsten Teil dieser Reihe möchte ich auf die Frage eingehen, ob es eine „gerechtere Kulturpolitik“ im Kontext der Digitalisierung geben kann.
Christoph Deeg