Digitalität als Wesensmerkmal einer neuen Kulturpolitik – Teil 5 – Digitalität, Kulturpolitik und Gerechtigkeit

Liebe Leser,

Im letzten Beitrag habe ich versucht, Digitalität und Kulturpolitik im Kontext einer „Next Society“ zu betrachten. Hintergrund dieses Ansatzes ist, dass ich glaube, dass wir eine Kulturpolitik der Zukunft nur im Kontext einer sich transformierenden Gesellschaft denken können, bei der Digitalität sowohl für die Gesellschaft als auch für die Kulturpolitik ein wesentlicher Enabler ist.

Ich möchte das Thema auch aus der Sicht der „Gerechtigkeit“ betrachten. Dafür ist es notwendig, zu überlegen, was mit einer gerechteren Kulturpolitik gemeint sein könnte? Woran machen wir eine gerechtere Kulturpolitik fest? Für diese Fragen möchte ich auf ein Modell von John Rawls zurückgreifen. Der US-amerikanische Philosoph definierte in seinem Werk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ Gerechtigkeit als Fairness. Dafür wagt er ein sehr interessantes Gedankenexperiment: den Schleier des Nichtwissens. In diesem Modell ist eine Gesellschaft dann als gerecht anzusehen, wenn alle ihre Mitglieder diese als gerecht definieren, ohne zu wissen, welche Position, welchen Status, welchen Beruf etc. sie in dieser Gesellschaft haben. Ich kann egoistisch denken – John Rawls ruft sogar dazu auf, aber ich muss damit rechnen, dass alle Ansichten und Zielsetzungen, welche ich aufgrund meiner jetzigen Situation als richtig und sinnvoll definiere, sich in einer möglichen Zukunft gegen mich richten. 

Aus dieser Perspektive ist es beispielsweise nicht gerecht, wenn eine digitale Infrastruktur so schlecht ist, dass die Arbeit von Kulturinstitutionen und Kulturschaffenden derart ausgebremst wird, dass sie den digital-analogen Optionsraum nicht nutzen können und somit inkompatibel zur digital-analogen Lebensrealität einer möglichen Next Society sind. Es ist ebenso ungerecht, wenn sich Kulturinstitutionen und Kulturschaffender weigern, ihre Denk- und Handlungsweisen so zu erweitern, dass sie der Kultur der Digitalität entsprechen.

Next Digital Society und Next Digital Kulturpolitik

Fassen wir nochmal zusammen: Die Kultur der Digitalität ist kein Ergebnis digitaler Technologien. Die Kultur der Digitalität beschreibt Denk- und Handlungsweisen, die schon vor der Digitalisierung existierten, durch diese aber weiterentwickelt wurden. So entstand bzw. entsteht ein massiv erweiterter digital-analoger Optionsraum. 

Eine Next Society ist immer eine Next Digital Society, weil sie auf den digital-analogen Lebensrealitäten der Menschen unserer Gesellschaft basiert. Möchte Kulturpolitik diese Next Society unterstützen bzw. soll der Kultursektor in dieser Next Society eine Rolle spielen können, muss Kulturpolitik u.a. darauf abzielen den Kultursektor in die Lage zu versetzen, den digital-analogen Optionsraum unserer Gesellschaft aktiv zu gestalten. 

Es darf nicht passieren, dass der Kultursektor in weiten Teilen von der digital-analogen Lebensrealität einer Next Digital Society abgeschnitten wird. Dies beinhaltet sowohl technologische als auch funktionale und kulturelle Parameter und Perspektiven. Zudem muss es dem Kultursektor bzw. den Kulturschaffenden ermöglicht werden, aktiv an der Gestaltung einer Next Digital Society teilzunehmen. Der Kultursektor kann hier neue Perspektiven einbringen, er kann ein Labor für die Transformation unserer Gesellschaft im Kontext einer Kultur der Digitalität sein. Er kann geschützte, spielerische Räume schaffen für den Diskurs für eine sich verändernde Gesellschaft, er kann Experiment sein, er kann die Schnittstelle zwischen digitalen und analogen Lebensrealitäten im Sinne von Kulturmodellen sein. Der Kultursektor kann oder könnte dies alles und noch viel mehr sein, aber dafür muss er anders aufgestellt werden. 

Kulturpolitik als Optionsraum-Politik

Was bedeutet das konkret? In einem ersten Schritt benötigen wir einen umfassenden Enabling-Prozess als Basis. Da eine Kultur der Digitalität nicht ohne Digitalisierung funktioniert, muss zuerst die Digitalisierung des Kultursektors vorangetrieben werden. Wir brauchen eine komplett andere, bessere, zukunftsgerichtete und zugleich nachhaltige, flexible digitale Infrastruktur. Die aktuelle Situation der digitalen Daseinsvorsorge in unserer Gesellschaft ist so nicht mehr hinnehmbar und sollte zu einem zentralen Thema einer auf eine gerechtere Zukunft ausgerichteten Kulturpolitik sein. Wenn sich digital-analoge Lebensrealitäten nicht entfalten können, weil die technologischen Rahmenbedingungen fehlen, führt dies zur Spaltung unserer Gesellschaft. Schon jetzt erleben wir das Entstehen einer neuen digitalen Hochkultur. Wir müssen verhindern, dass sich die Fehler der Kulturpolitik im prä-digitalen Zeitalter nun im Zeitalter digital-analoger Lebensrealitäten wiederholen. Zur Infrastruktur gehört auch ein neues Verständnis digital-analoger Kulturorte im Kontext einer Next Digital Society. Wir müssen Digitalisierung und die Kultur der Digitalität als gestalterisches Element in der Architektur verstehen. Hier kann der Kultursektor zu einem Innovationsträger der Gesellschaft werden.

Neben der digitalen Ausstattung muss eine umfassende Weiterbildungsstrategie realisiert werden, die weit über die vorhandenen Programme und Angebote hinausgeht und Themen wie Meta-Kompetenzen und ebenso völlig neue Weiterbildungsformate miteinschließt. 

Dabei geht es nicht nur um das Erlernen von Inhalten etc. Kulturinstitutionen müssen zu selbstlernenden, sich selbst entwickelnden Systemen werden. Sie müssen eine eigene digital-analoge Lebensrealität entwickeln und sie müssen herausfinden, wie die Kultur der Digitalität zu einer Querschnittsfunktion ihrer Arbeit werden kann. Denn eine Kultur der Digitalität lässt sich nicht verordnen oder erlernen. Die Kultur der Digitalität ist entstanden durch Handlungen und Verhandlungen von Millionen von Menschen. Die Kultur der Digitalität ist kein statisches Modell, sondern ein komplexer Prozess. Jede Institution, jede Organisation muss ihre eigene digital-analoge Lebensrealität, ihre eigene Kultur der Digitalität entwickeln und leben. Kulturpolitik muss dafür sorgen, dass die systemischen Rahmenbedingungen für diesen Entwicklungsprozess vorhanden sind.

Damit aber nicht genug: mindestens ebenso wichtig ist eine umfassende Evaluation der Transformation des Kultursektors. Dies betrifft die Erhebung und ebenso die Analyse von Daten. Hier ist eine Professionalisierung dringend erforderlich. Die Digitalisierung ermöglicht die Erhebung und Bewertung von riesigen Datenmengen. Der transparente und offene Umgang ist zu einem wichtigen Bestandteil der Kultur der Digitalität geworden.

Ebenso relevant ist das Thema eines „New Leadership“. Hierbei geht es um die Führung von Kulturinstitutionen auf Basis der Logiken einer Kultur der Digitalität. Das beginnt bei der Frage nach den Kompetenzen und Erfahrungen, die eine Führungskraft benötigt und endet bei der Überarbeitung von Stellenbeschreibungen und -Ausschreibungen. Gegebenenfalls muss überlegt werden, ob die Strukturen des öffentlichen Dienstes überhaupt kompatibel mit einer Kultur der Digitalität bzw. einer Next Digital Society sind. 

Eine gerechte Kulturpolitik muss alle (!) Prozesse und Strukturen benennen, die eine Entwicklung des Kultursektors im Sinne einer Next Digital Society behindern. Sie muss transparent und offen die Missstände im Kultursektor kommunizieren und die Gesellschaft einladen, diese Missstände gemeinsam zu beheben. Dazu gehört auch eine Offenheit hinsichtlich der Frage, ob wir alle Kulturinstitutionen benötigen sowie eine Transparenz hinsichtlich der Wirkung von Kulturinstitutionen im Kontext digital-analoger Lebensrealitäten. So ist zu beobachten, dass die weitaus meisten digitalen Aktivitäten aus dem Kultursektor den Fokus auf die Themen Marketing/Öffentlichkeitsarbeit sowie in Teilen Kulturvermittlung legen. Die Gestaltung des digitalen Raumes als weiteren Lebensraum findet jedoch kaum statt. 

Eine Gerechte Kulturpolitik muss auch diskutieren, inwieweit politische und rechtliche Rahmenbedingungen im Kontext einer Kultur der Digitalität die Idee einer Next Digital Society behindern. So wäre es sicherlich hilfreich alle fünf Jahre offen und kritisch Bilanz zu ziehen, ob beispielsweise das aktuelle Urheberrecht der Kultur der Digitalität entspricht oder ob es gerechtere Lösungen geben kann.

Die Elemente einer Kultur der Digitalität müssen zu einer Kernfunktion der Kulturpolitik und der Kulturverwaltung werden. Dies mag auch bedeuten, dass wir komplette Strukturen hinterfragen, verändern oder sogar abschaffen müssen. Natürlich kann so ein Prozess nicht nebenbei, quasi als optionales Addon durchgeführt werden. Somit muss darüber nachgedacht werden, ob man für einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren die Angebote und Projekte im Kultursektor um 30% reduziert werden, um Zeit und Ressourcen für diesen Wandel zu haben. 

Die vorhandenen Förderprogramme sollten inhaltlich und strukturell überarbeitet werden. Dies betrifft nicht nur die Förderprogramme, die einen direkten Bezug zu digitalen Themen haben. Wenn wir akzeptieren, dass es eine Next Digital Society gibt und diese Gesellschaftsform auf der Kultur der Digitalität aufbaut, dann müssen alle Förderprogramme aus der Perspektive dieser Situation neu bewertet werden.

Gegebenenfalls muss auch darüber nachgedacht werden, komplett neue Orte, Institutionen, Strukturen zu schaffen, die die Aufgaben übernehmen, die durch die Kultur der Digitalität entstehen, in den vorhandenen Strukturen aber nicht mehr umgesetzt werden können. 

Eine gerechte Kulturpolitik im Kontext einer Kultur der Digitalität muss neue Freiräume für den Kultursektor einfordern und realisieren. Es muss beispielsweise möglich sein, dass alle Kulturinstitutionen völlig frei und autonom im digitalen Raum agieren können. Eine Abhängigkeit und Kontrolle seitens der Träger verhindert den Transformationsprozess unserer Gesellschaft. 

Bei all diesen Punkten haben wir noch nicht über die „neuen Dynamiken“ gesprochen, die mit der Next Digital Society einhergehen. Wir müssen uns fragen, inwieweit Kulturpolitik selbst zu einem Motor der Transformation unserer Gesellschaft werden möchte. Wir müssen uns fragen, ob die Kulturpolitik bereit ist, ihre eigenen Muster, ihre eigenen Denk- und Handlungsweisen zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Wir müssen uns fragen, ob die „Kultur der Kulturpolitik“ in diesem Kontext eher bremst als ermöglicht. 

Fazit

Für die Zukunft einer gerechteren und umfassenden Kulturpolitik geht es um die Frage, ob der Kultursektor und damit verbunden die Kulturpolitik in der Lage sind, an der Gestaltung einer Next Digital Society mitzuwirken. Diese Next Digital Society ist kein Freizeitprojekt einiger selbsternannter Innovationsexpert:innen, sondern ein wichtiger und benötigter Transformationsprozess unserer Gesellschaft. Auch wenn es in den letzten Jahren im Kultursektor zu Veränderungen gekommen ist, auch wenn versucht wurde, digital aktiv zu sein und dabei in Teilen spannende Projekte entstanden sind, stehen wir letztlich noch immer am Anfang. Die bis heute geleistete Arbeit im Kontext der Digitalisierung wurde innerhalb systemischer Rahmenbedingungen geleistet, die aus der prä-digitalen Ära stammen. Ihre Kulturmodelle aber auch ihre Strukturen und Prozesse sind mit der sich stetig weiterentwickelnden digital-analogen Lebensrealität unserer Gesellschaft nicht mehr kompatibel. Die Kultur der Digitalität wird zunehmend zur Kernfunktion einer Next Digital Society. Wobei ich aufgezeigt habe, dass die Grundmuster, Logiken und Muster schon vor der Einführung digitaler Technologien als Funktionen und/oder Bedarfe/Bedürfnisse existierten, nun aber durch die Einführung eben jener digitalen Technologien einen weitaus größeren digital-analogen Optionsraum definieren. 

Es gibt keine einfache Lösung, keine Abkürzung in eine Next Digital Society. Es gibt nicht die zehn Schritte, die zehn Best-Practice-Beispiele, die zehn strategischen Bausteine einer Kultur der Digitalität. Gleichwohl ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, weitaus umfassender das Thema Transformation anzugehen. Für die Kulturpolitik bedeutet dies zweierlei. Sie muss zum einen den Wandel im Kultursektor anschieben und gesamtgesellschaftlich die Stimme erheben, um eine Kultur der Digitalität zu vermitteln. Sie muss sich aber ebenso selbst einem umfassenden Transformationsprozess stellen, der dafür sorgt, dass die Idee einer Kultur der Digitalität zu einer gedanklichen und funktionalen Querschnittsfunktion der Kulturpolitik wird. In einem ersten Schritt wird es notwendig sein, herauszufinden, welcher Optionsraum sich für die Kulturpolitik durch die Kultur der Digitalität ergibt.. Oder um es mit Armin Nassehi zu sagen: Kulturpolitik muss neu herausfinden, für welches Problem unserer Gesellschaft sie die Lösung ist.

Christoph Deeg

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