Digitalität als Wesensmerkmal einer neuen Kulturpolitik – Teil 3 – Nachdenken über Digitalisierung und Digitalität

Liebe Leser,

ich möchte mich in diesem Beitrag mit weiteren Perspektiven auf Digitalität und Kulturpolitik beschäftigen. Im letzten Beitrag habe ich erste Gedanken formuliert und mich mit der Frage beschäftigt, was denn Digitalisierung/Digitalität überhaupt bedeuten kann. Diese Fragestellung möchte ich in diesem Beitrag weiter diskutieren:

Digital-analoge Lebensrealitäten

Ich möchte zuerst eine weitere von mir entwickelte Definition hinzufügen: die Idee der digital-analogen Lebensrealitäten: Jeder Mensch entscheidet individuell und situativ über den Anteil des Analogen und des Digitalen in seinem/ihrem Leben und ebenso über die damit verbundenen Funktionen. So entsteht ein riesiger digital-analoger Optionsraum, der sich stetig ändert bzw. stetig weiterentwickelt wird. 

Diese Definition fokussiert sich auf die individuellen Entscheidungen, Handlungen sowie Denk- und Handlungsweisen von Menschen. Hier liegt eine gedankliche Nähe zur Definition von Armin Nassehi, da die von ihm gestellte Frage nach dem Problem, welches durch die Digitalisierung gelöst werden soll, ebenso den Menschen mit seinen Bedürfnissen beleuchtet. Der Unterschied ist der, dass Nassehi sich auf die Gesellschaft fokussiert, während mein Ansatz das Individuum betrachtet. 

Was erzeugt Digitalisierung?

Digitale Technologien schaffen den Raum für immer neue Themen, Inhalte, Ideen, Handlungen und Kommunikation. Ich möchte dies an zwei Beispielen aus dem Kontext des Kultursektors skizzieren: Schon mit dem Aufkommen des sogenannten Web2.0 wurde die Frage diskutiert, inwieweit die Tatsache, dass nun jede Person zugleich Sender und Empfänger von Informationen und Inhalten sein kann, dazu führt, dass die Deutungshoheit von Kulturinstitutionen verschwindet. 

Dabei geht es weniger um Macht, sondern vielmehr um die Erkenntnis, dass mit einem Verlust der Deutungshoheit auch ein Verlust von Relevanz einhergeht bzw. dass es für den Kultursektor weitaus schwerer werden würde, den digitalen Raum zu gestalten. Es wäre damals vielleicht sinnvoller gewesen, zu akzeptieren, dass die Digitalisierung die Deutungshoheit nicht abschaffte, sondern vielmehr aufzeigte, dass es diese Deutungshoheit nie gegeben hatte. Die Frage nach der Deutungshoheit war somit nur ein Einstieg in die Frage, welche Relevanz Kulturinstitutionen im digitalen Raum haben können und was dies für unsere Gesellschaft als Ganzes bedeutet. Denn die Wirkung, die Kulturinstitutionen im Analogen schon aufgrund der Existenz ihrer physischen Orte und Symboliken entfalten können, ist im Digitalen so nicht vorhanden. Weder die Inhalte noch die Orte, die Formate und die Relevanz sind vom Analogen ins Digitale eins zu eins übertragbar. Sie müssen übersetzt, neu definiert und umfassend weiterentwickelt werden. Und auch hier geht es wieder um die Frage, welche Logiken, welche Denk- und Handlungsweisen bei der Übersetzung vom Analogen ins Digitale Wirkung erzeugen.

Für das Erschaffen künstlerische Werke/Inhalte ergab sich eine weitere Herausforderung deren Bedeutung wir erst langsam verstehen: die Welt der Computerspiele brachte auch ein erweitertes Verständnis des künstlerischen Werkes mit sich. Bis zu den Games galt, dass Kunst frei sei, dass sie nicht gefallen muss und vor allem: dass man sie nicht verstehen können muss. Digitale Spiele existieren jedoch nicht, wenn sie nicht gespielt werden. Somit muss bei der Erstellung des Werkes die Interaktion mit dem Werk berücksichtigt werden. Es muss motivierend sein, das Werk zu spielen. Es muss verständlich sein und unterschiedliche Formen der Erkenntnis ermöglichen. Anders ausgedrückt: Akzeptiert man das digitale Spiel als Kulturgut und digitale Spiele als Kunstwerke, müssen wir die Frage von Kulturvermittlung und kultureller Bildung neu denken und zudem die Kunstproduktion hinterfragen.

Ich habe diese beiden Beispiele bewusst ausgewählt, weil sie für langfristige und zugleich umfassende Herausforderungen stehen. Der Wegfall der Deutungshoheit sorgt dafür, dass der Kultursektor bei der Gestaltung des digitalen Raumes komplett von vorne beginnen muss, denn es müssen neue Formen und Formate für die Vermittlung von kulturellen Inhalten entwickelt, erlernt und implementiert werden. Das Beispiel mit den Games verdeutlicht, dass es zu neuen Wahrnehmungs- und Produktionsformen von kulturellen Inhalten kommt. 

Die Funktionen von Digitalisierung und Digitalität

Gehen wir einen Schritt weiter. Nachdem wir uns mit einer möglichen Definition und der Frage nach der Wirkung von Digitalisierung beschäftigt haben, müssen wir uns nun mit der Idee der „Kultur der Digitalität“ beschäftigen. Vereinfacht ausgedrückt kann man sagen: die Kultur der Digitalität erklärt sich aus den Funktionen der Digitalisierung. Zu den Funktionen gehören beispielsweise: 

  • Vernetzung: Im digitalen Raum werden Menschen mit Menschen, mit Ideen und Inhalten und ebenso mit Maschinen vernetzt. Es entstehen immer neue Netzwerke mit immer neuen Mustern und neuen Inhalten. 
  • Teilen: Inhalte sind teilbar und können somit neu kontextualisiert, verändert und neu wahrgenommen werden. Die Möglichkeit des Teilens bedeutet aber auch eine Erwartungshaltung, dass Inhalte, Ideen, Daten etc. geteilt und nicht zurückgehalten werden.
  • Transparenz: Inhalte, Prozesse, Entscheidungen etc. werden zunehmen transparent. Dies kann dadurch geschehen, dass Nutzer*innen ihre Inhalte, Ideen, Wahrnehmungen etc. aktiv teilen, und das dies ebenfalls erwartet wird
  • Geschwindigkeit: Die Struktur digitaler Plattformen ermöglicht, eine massive Geschwindigkeit in der Wahrnehmung, Erschließung und Kommunikation unterschiedlicher Inhalte. Ebenso steigt mit ebenso hoher Geschwindigkeit die Menge an Daten und Inhalten im Netz, sodass es heute kaum mehr möglich ist, die Menge an Daten und Inhalten zu überblicken.
  • Interaktion: Die Systeme sind auf Interaktion ausgerichtet. Beispielsweise ist die quantitative Menge der Interaktionen ein wesentlicher Faktor zur Erfolgsmessung digitaler Prozesse. 
  • Sozialer Klebstoff: Gerade die sozialen Medien zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine neue, sehr leichte Form einer emotionalen Verbindung zwischen Menschen etablieren können. Vernetzung und Interaktion ermöglichen temporäre und nur schwach wirkende soziale Verbindungen, die aber u.U. situativ verstärkt werden können.

Mit diesen Funktionen gehen verschiedene Denk- und Handlungsweisen einher. Die Funktionen erzeugen unterschiedliche Muster oder auch Formen von Digitalität. Aber was ist mit Digitalität gemeint?

Eine sehr interessante Perspektive ist die von Felix Stalder. In seinem Buch „Kultur der Digitalität“ beschreibt er drei Formen der Digitalität: Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität, wobei alle drei Formen in Wechselwirkung zueinanderstehen:

„Referentialität ist eine Methode, mit der sich Einzelne in kulturelle Prozesse einschreiben und als Produzenten konstituieren können. Kultur, verstanden als geteilte soziale Bedeutung, heißt, dass sich ein solches Vorhaben nicht auf den Einzelnen beschränken kann. Vielmehr vollzieht es sich innerhalb eines größeren Rahmens, für dessen Existenz und Entwicklung gemeinschaftliche Formationen von zentraler Bedeutung sind. ‚Algorithmizität‘ bezeichnet jene Aspekte der kulturellen Prozesse, die durch von Maschinen ausgeführte Handlungen (vor-) geordnet sind.“ (Stalder 2019, S. 95-96)

Stalder geht davon aus, dass diese drei Formen von Digitalität in ihrer Anwendung zu einer Kultur der Digitalität führen. Die von ihm beschriebenen Formen der Digitalität entstehen durch die Anwendung der zuvor beschriebenen digitalen Funktionen. Sie werden aber im Kontext digital-analoger Lebensrealitäten auch in den analogen Raum übertragen. Wenn Menschen nicht mehr zwischen digitalen und analogen Aktivitäten trennen, da beides zu ihrer individuellen Lebensrealität gehört, setzen sich letztlich sowohl im Digitalen als auch im Analogen die Funktionen, Formate und Muster durch, die einen höheren Mehrwert bringen.  

Im nächsten Teil meiner Reihe zu Digitalität und Kulturpolitik werde ich über Perspektiven auf Digitalisierung und Kultur skizzieren.

Christoph Deeg

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