Liebe Leser,
Unsere Gesellschaft(en) stehen mal wieder – oder noch immer? – vor riesigen Herausforderungen. Themen wie Klimawandel, Migration, Demographie aber auch geopolitische Herausforderungen wie der völkerrechtswidrige und zu verabscheuende Krieg Russlands gegen die Ukraine bedeuten große Herausforderungen, wobei nicht vergessen werden sollte, dass diese hier als Einzelthemen beschriebenen Themen miteinander in Wechselwirkung stehen und es gut möglich ist, dass weitere Themen hinzukommen werden. Alle diese Themen wirken wie ein riesiger Stresstest für unsere Gesellschaft, ihre Institutionen und Prozesse und es wird zunehmend klar, dass die vorhandenen Modelle, Strukturen sowie Denk- und Handlungsweisen nicht ausreichen, um diese aktuellen und zukünftigen Krisen zu bewältigen.
Wir brauchen einen breiten Diskurs über das, was unsere Gesellschaft sein kann und soll. Wir müssen darüber reden, wie eine Next Society aussehen kann. Und wenn wir das wissen müssen Taten folgen: der Transformationsprozess unserer Gesellschaft ist in vollem Gange.
Ich behaupte, dass der Kultursektor sowohl hinsichtlich des Diskurses als auch hinsichtlich der Taten eine wichtige Rolle als Ort der Transformation, der Auseinandersetzung, des Experiments und des Scheiterns spielen kann und sollte. Ich sehe allerdings die Gefahr, dass diese Option aufgrund vorhandener systemischer Rahmenbedingungen sowie Denk- und Handlungsweisen nicht umgesetzt werden kann.
In diesem Beitrag möchte ich die Idee der Next Society aus Sicht einer „Kultur der Digitalität“ beleuchten. Zudem möchte ich diskutieren, was diese „Next Digital Society“ für eine neue Kulturpolitik bedeuten kann, die versucht, gerechter zu agieren und/oder eine gerechtere Gesellschaft zu gestalten.
Digitalisierung als Herausforderung und Enabler einer sich verändernden Gesellschaft
Wenn ich am Anfang meines Beitrages die einzelnen skizzierten Herausforderungen betrachte, fällt auf, dass eine wichtige Herausforderung fehlt: die Digitalisierung. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn die Digitalisierung stellt einen Sonderfall dar. Sie ist Herausforderung und Enabler zugleich. Dass die Digitalisierung für unsere Gesellschaft eine Herausforderung ist, erkennt man täglich, wenn wieder einmal auf Reisen kein Netzempfang möglich ist oder Internetgeschwindigkeit und Bandbreite nicht ausreichen, um in meiner Wohnung parallel eine Videokonferenz durchzuführen und im selben Moment in einem anderen Raum ein Video zu streamen. Wir erleben es, wenn Verwaltungsprozesse und Bezahlvorgänge nur analog durchgeführt werden können. Wir alle kennen diese Beispiele. Wir alle haben gelernt, damit umzugehen – was nebenbei bemerkt ein Fehler ist. Weniger sichtbar aber weitaus folgenschwerer sind die nicht wahrgenommenen und/oder nicht übernommenen Denk- und Handlungsweisen, die mit diesen digitalen Plattformen einhergehen. Sie erzeugen die eigentliche Wirkung und sie sind auch das wichtigste Element, wenn es um die Funktion der Digitalisierung als Enabler für Veränderungsprozesse geht.
Für die Idee einer „Next Society“ ist die Digitalisierung ebenfalls eine Chance und eine Herausforderung. Sie wird die anstehenden Transformationsprozesse nicht ohne Digitalisierung umsetzen können, wird aber durch die damit verbundene Kultur der Digitalität immer neu herausgefordert, da hierdurch kontinuierlich neue Muster und Denk- und Handlungsweisen entstehen. Beginnen wir aber von vorne, indem wir zuerst die Begrifflichkeiten diskutieren.
Was bedeutet eigentlich Digitalisierung?
Wenn wir uns mit einer Kultur der Digitalität beschäftigen wollen, müssen wir zuerst klären, was mit Digitalisierung gemeint ist, denn eine Kultur der Digitalität ist eng mit der Digitalisierung verbunden. Die Problematik ist dabei, dass es keine klare Definition für den Begriff Digitalisierung gibt. (Es gibt nebenbei bemerkt auch keine klare Definition dessen, was eine Kultur der Digitalität oder eine Next Society bedeuten.) Die vorhandenen Definitionen stellen vielmehr unterschiedliche Perspektiven auf das Thema dar. Dieser Umstand ist einfach zu erklären: wann immer wir uns mit dem Thema Digitalisierung beschäftigen, tun wir dies entweder aus Sicht eines konkreten Anlasses oder aber aufgrund eines eigenen Erfahrungsraums. Sascha Friesike und Johanna Sprondel betrachten Digitalisierung beispielsweise aus Sicht der digitalen Transformation:
“Digitalisierung ist zunächst einmal die Übersetzung von Analogem in Digitales – nicht mehr, aber auch nicht weniger: Texte werden eingescannt und damit von einem Blatt Papier in ein PDF übertragen, von flächig gewalztem und mit Tinter oder Toner bedruckten Faserstoff in Reihen aus Nullen und Einsen überführt“ (Friesike und Sprondel 2022, S. 10-11)
Aus ihrer Perspektive ist diese Definition hilfreich, denn sie dient dazu, eine Abgrenzung zur digitalen Transformation zu schaffen. Sie reduziert die Definition von Digitalisierung auf eine Kernfunktion. Dieser Ansatz ist oft zu finden, birgt aber das Risiko, eine verkürzte Wahrnehmung des Themas zu erzeugen. Wenn digitale Prozesse aus einem analogen Prozess hervorgegangen sind, stellt sich die Frage, ob die Logiken aus dem ursprünglichen/analogen oder dem neuen/digitalen entnommen wurden. Das in dem Zitat beschriebene PDF kann als einzelne Datei für eine Person exklusiv zugänglich gemacht werden, was der Logik des Analogen entsprechen würde. Es könnte aber auch gleichzeitig zur gemeinsamen Betrachtung und Bearbeitung genutzt werden, was den Logiken und Optionen des Digitalen entsprechen würde. Zudem wird übersehen, dass es digitale Prozesse gibt, die keinen analogen Vorgänger haben, sondern im Digitalen gedacht und entwickelt wurden. Dazu gehören beispielsweise die Computerspiele als erste rein digitale massentaugliche Kunstform.
Die Frage nach den mit dem jeweiligen digitalen Prozess verbundenen Logiken ist wichtig, denn sie führt in der Konsequenz zu unterschiedlichen Denk- und Handlungsweisen. Wenn ich eine Videokonferenz durchführe und dabei die Logiken analoger Meetings übernehme, weil ich diese Videokonferenz nur als Ersatz für ein Treffen im analogen Raum nutze, werde ich immer unzufrieden sein, denn die Möglichkeit des „realen“ Treffens und Erlebens im physischen Raum lässt sich nicht digital ersetzen. Wenn ich aber die Optionen und Logiken des Digitalen übernehme, indem ich beispielsweise versuche, die Optionen, die sich aus der Nutzung der Software für Videokonferenzen ergeben, zu nutzen, entsteht ein neues Format, welches für sich steht und nicht mehr als schwacher Ersatz oder gar Konkurrenz zu einem analogen Treffen angesehen wird. Dafür muss ich aber meine eigenen Denk- und Handlungsweisen anpassen.
Der Soziologe Armin Nassehi wiederum beginnt mit einer anderen Perspektive. Ihm geht es in seinem Werk „Muster – Theorie der digitalen Gesellschaft“ nicht um eine Abgrenzung zur digitalen Transformation, sondern um die Mehrwerte, die durch Digitalisierung entstehen. Er fragt, welches Problem die Digitalisierung lösen soll, um zu verstehen, was dann Digitalisierung überhaupt ist:
„Wenn ich es recht sehe, ist diese Frage nach dem Bezugsproblem der Digitalisierung noch nicht gestellt worden: Für welches Problem ist die Digitalisierung die Lösung? Es macht einen Unterschied, wie man fragt. Ich frage nicht: Was ist Digitalisierung? Ich frage auch nicht: Was ist das Problem an der Digitalisierung? Oder: Was für Probleme bereitet die Digitalisierung?“ (Nassehi 2020, S. 31)
Seine Perspektive basiert auf einer theoretisch-soziologischen Annäherung an das Thema. Seine Frage nach der Problemlösung durch Digitalisierung ist wichtig, denn sie nimmt Digitalisierung nicht einfach als gegeben hin, sondern fragt nach deren Nutzen. Digitalisierung erfüllt hier keinen Selbstzweck, sondern hat eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Aber welche Bedeutung hat dies für eine Kulturpolitik der Zukunft? Und was bedeutet Digitalisierung dann für den Kultursektor?
Diese Fragestellungen und weitere Ansätze werde ich im dritten Teil meiner kleinen Reihe weiter diskutieren.
Christoph Deeg