Seit ca. vier Jahren beschäftige ich mich zunehmend mit der Frage der Zukunft unserer Städte. Auch hier geht es immer um den Kontext der digital-analogen Lebensräume. In einigen Projekten in Deutschland, aber auch international darf ich mit verschiedenen Expertenteams nach einer neuen Definition des Begriffs Stadt im Kontext der Digitalisierung suchen. Es sind großartige und anstrengende Projekte. In diesem Kontext ist auch „SOSTLAB“ entstanden. Die Frage, die ich mir dabei immer Stelle ist, inwieweit wir im Kontext der Neuentwicklung von Städten primär auf Technologien schauen sollten? Wie auch in anderen Bereichen meine Arbeit gehe ich davon aus, dass die Technologie nur ein Element der Entwicklung ist.
Es geht also im Kontext der Digitalisierung der Städte nicht darum, möglichst viel Technologien einzubauen. Damit man mich nicht falsch versteht: Digitalisierung bedeutet natürlich im ersten Schritt immer den Aufbau einer umfassenden digitalen Infrastruktur, die nicht nur vorhanden sondern auch schnell, nutzbar und offen sein muss. Ist dieser Prozess abgeschlossen, und wir stehen selbst hier in Deutschland immer noch am Anfang, geht die eigentliche Reise los. Nun geht es darum, zu überlegen, was man damit machen kann bzw. wie die Wechselwirkungen zwischen digitaler Technologie und digitalen Plattformen auf der einen Seite und Lebensräumen auf der anderen Seite aussehen können, damit daraus ein menschlicher Lebensraum wird. Dies ist kein linearer Prozess. Wir können nicht zuerst eine digitale Infrastruktur aufbauen und dann überlegen, wie wir diese nutzen wollen. Trotzdem muss zuerst die Grundlage geschaffen werden, dass digitales Leben überhaupt möglich ist. Ausgehend vom TFK-Modell, welches Digitalisierung in die drei Bereiche Technologie, Funktion und Kultur unterteilt, muss parallel zum Aufbau der Infrastruktur an den weitergehenden Rahmenbedingungen aber auch Nutzungsoptionen gearbeitet werden. Und dieser Prozess endet nie. Im Gegenteil, die immer schneller werdenden Innovationszyklen bedeuten letztlich einen Kreislauf der Weiterentwicklung digital-analoger Lebensräume.
Was ich bei meinen Reisen unter anderem nach Ostasien sehen konnte war, wie die Digitalisierung einen erweiterten Optionsraum für Städte schaffen kann. Gleichwohl geht es nicht darum die Konzepte aus Shanghai oder Seoul einfach zu kopieren. Wir müssen eigene Wege finden, die unseren Kultur-Modellen entsprechen.
Um mich also mit der Zukunft der Stadt zu beschäftigen schaue ich auch auf die großen Fragestellungen der letzten 100 Jahre. Ein Buch, welches dabei immer wieder relevant ist, ist „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ von Alexander Mitscherlich. Dieses Werk ist bereits 1965 erschienen und es ist immer noch aktuell. Gewiss, man mag den einen oder anderen Gedanken transformieren müssen, denn zur damaligen Zeit war das Thema Digitalisierung schlichtweg nicht vorhanden. Aber alle Kernaussagen dieses Buches sind noch heute relevant. Und je öfter ich dieses Buch lese, desto größer wird in mir der Wunsch, dass wir Digitalisierung von Städten erneut neu denken.
Seit der Veröffentlichung des Buchs von Alexander Mitscherlich ist in den Städten meiner Meinung nach nicht viel passiert. Wir haben letztlich gesehen zumindest aus Innenstädten Wüsten des Einzelhandels gemacht. Diese Monokulturen funktionieren schon seit Jahren nicht mehr und so ist es kaum verwunderlich, dass viele Menschen in den digitalen Raum abwandern. In der Corona Krise wird die Problematik besonders sichtbar. Wenn ich jetzt lese, dass immer mehr Ketten ihre Filialen schließen, und dies auf die Digitalisierung zurückgeführt wird, dann muss man sagen, dass dies keine Frage der Digitalisierung an sich, sondern er ein Ergebnis von Planungen ist, denen wahrscheinlich die falschen Annahmen zugrunde lagen.
Dieses Buch ist nur eines von vielen, welches man für die Weiterentwicklung von Städten gelesen haben sollte. Seit 6 Monaten lese ich es immer wieder und ich versuche dabei, das Thema Digitalisierung zu integrieren. Ich würde diese Diskussion gerne weiterführen. Denn wir brauchen viel mehr Nachdenken über die Stadt als digital-analogen Lebensraum.
Christoph Deeg