Liebe Leser*innen,
Digitale Transformation ist ein komplexes Unterfangen und sie hat einen Einfluss auf viele digitale und analoge Prozesse. Im Kern geht es aus meiner Sicht immer um die Frage digital-analoger Lebensrealitäten auf der Ebene von Individuen und ebenso auf der Ebene von Gruppen. In diesem Beitrag möchte ich über eine von mir entwickelte These schreiben, nämlich, dass die klassische Fokussierung auf Zielgruppen, beispielsweise im Marketing durch die Digitalisierung wenig hilfreich ist. Ich möchte behaupten, dass die Ausrichtung auf die Arbeit mit Zielgruppen eher ein Indiz dafür ist, dass sich die jeweilige Organisation noch im prä-digitalen Zeitalter befindet. Worum geht es?
Eigentlich ist die Nutzung von Zielgruppen bei der Entwicklung und Umsetzung von Prozessen und Projekten als Standardprozedur anzusehen. Und die Idee klingt auf den ersten Blick sehr zielführend: Menschen mit ähnlichen Interessen oder Merkmalen werden in Gruppen zusammengefasst. Für diese Gruppe wird dann ein „passendes“ Angebot erstellt. Auf diesem Weg können viele Menschen mit einem Prozess, einem Angebot angesprochen/erreicht und die Abläufe, Strukturen und Ressourcen effizient geplant werden. Zudem kann/konnte man so die vorhandenen Kommunikationskanäle besser nutzen. Diese waren in der prä-digitalen Ära nur in geringer Anzahl vorhanden. Das Problem bei dieser Herangehensweise ist aber, dass damit kaum (wirklich) individuelle Ansprachen und/oder Problemlösungen möglich sind. Somit muss „das Gefühl“ der individuellen Ansprache „fiktiv“ erzeugt werden. Der „Energieverlust“ ist riesig. Und: es entsteht keine inhaltliche Tiefe, sondern eher Oberflächlichkeit, denn es werden auch Personen einer Gruppe zugeordnet und behandelt, die der Gruppe eigentlich nicht entsprechen.
Durch die Digitalisierung hat sich aber die Ausgangssituation geändert. Plötzlich standen weitaus mehr potentielle Kanäle zur Verfügung. Jeder Mensch kann Sender und Empfänger zugleich sein. Digitalisierung ermöglicht und erfordert Interaktion, Soziale Medien sind beispielsweise Dialog-Medien und eben nicht statische Kommunikation- und Interaktionskanäle, auch wenn sie von (zu) vielen Unternehmen und Organisationen so benutzt werden. Natürlich kann man digitale Kampagnen so planen und umsetzen, dass sie zu einer definierten Zielgruppe passen. Aber aus meiner Sicht ist das weder nachhaltig noch zielführend: Im digitalen Raum entsteht eine neue Form der Individualität bzw. wir Individualität sichtbar/umsetzbar. Immer mehr Menschen können sich miteinander vernetzen, aufeinander wirken und sich gegenseitig beeinflussen. So entstehen multioptionale und zugleich temporäre Netzwerke. Oder anders ausgedrückt: das Digitale ermöglicht/erzeugt mehr Diversität. Zielgruppen sollen aber diese Diversität reduzieren, sie sollen sie händelbar machen und auf den ersten Blick scheinen wir in den Sozialen Medien vor allem die geschlossen Blasen und Echokammern zu entwickeln. Aus meiner Sicht stimmt dies aber nur in beschränktem Rahmen. Denn auch wenn Menschen ihre eigenen Filterblasen haben, die digitalen Angebote an sich erlauben eine starke Diversifizierung. Ich frage mich: ist das klassische Onlinemarketing wirklich so erfolgreich oder soll es erfolgreich sein, weil es ein effizient umzusetzender Ansatz ist?
Wir können im Digitalen neue Netzwerke bilden, neue Rückkopplungseffekte erzeugen und damit neue Inhalte erstellen. Die Idee der „geschützten Diskurs- und Demokratie-Räume“ ist meines Erachtens ein gutes Beispiel: hier soll bewusst die Diversität der Wahrnehmungen und Erfahrungen erlebbar und diskutierbar gemacht werden.
Bleibt die Frage: was sind die Alternativen? Werden wir in Zukunft die Anzahl der Menschen, mit denen wir direkt in einen Dialog treten reduzieren, weil wir die Diversität nicht managen können? Schaffen wir in Zukunft temporäre Netzwerke um zwischen Phasen der Stabilität und der Diversität zu wechseln? Oder werden wir unsere eigenen K.I.’s programmieren, die dann miteinander in unbegrenzter Zahl kommunizieren?
In der Gamification habe ich vor einigen Jahren einen sehr spannenden Ansatz gefunden: das Modell der Motivationsportfolios. Yu-Kai Chow beschreibt in seinem Buch:“Actionable Gamification: Beyond Points, Badges and Leaderboards“ ein Modell, bei dem davon ausgegangen wird, dass jeder Mensch über ein individuelles Motivationsportfolio verfügt, welches auf den acht Motivationen „Meaning“, „Empowerment“, „Social Influence“, „Unpredictability“, „Avoidance“, „Scarcity“, „Ownership“ und „Accomplishment“ basiert. Aus der Beobachtung des Spiels entstanden diese Motivations-Perspektiven und das Ziel ist, Prozesse zu entwickeln, die alle diese acht Motivationen triggern. Auf diesem Weg entstehen Prozesse, die für alle Menschen, unabhängig von ihrem individuellen Motivationsportfolio „funktionieren“.
Diese Idee brachte mich auf eine Idee: können wir das Konzept der Zielgruppen durch individuelle Motivationsportfolios ersetzen? Wäre es vielleicht möglich, dadurch stärkere Formen der Interaktion zu erzeugen und wie kann das im digitalen Raum umgesetzt werden? Auf Basis dieser Ideen habe ich in den letzten Jahren verschiedene Formen von Motivationsmodellen angewendet. Dabei habe ich das Modell von Yu-Kai Chow erweitert (u.a. Erhöhung der Motivationen und ihrer Umsetzungen) und dann mit anderen Modellen kombiniert. Herausgekommen ist ein multioptionales Modell, welches helfen kann, den digitalen und den analogen Raum so zu gestalten, dass damit individuelle Prozesse ermöglicht werden, die mehr Wirkungen erzeugen, als auf Zielgruppen basierende Ansätze. Eine komplette Abkehr von Zielgruppen ist jedoch nicht sinnvoll und auch nicht gewollt, da sie beispielsweise noch immer sinnvoll sind, wenn es um die Clusterung von Themen geht. Für neue Kommunikation-, Vermittlung- und Austauschformate sind alternative Ansätze nach meiner Erfahrung aber hilfreicher. In einem der nächsten Beiträge werde ich anhand von Beispielen zeigen, wie solche Ansätze helfen können. Dabei werde ich auch auf die Nutzungsoptionen bei der Gestaltung physischer Räume eingehen.
Beste Grüße
Christoph Deeg