Das Mittwochs-Thema: Julian Nagelsmann, Fussball und Transformative Gamification

Liebe Leser,

es ist wieder Zeit für das Mittwochsthema. Im vorletzten Beitrag hatte ich ein paar grundsätzliche Gedanken zum Thema Gamification skizziert. Und eigentlich wollte ich heute über die Frage schreiben, wie wir digital-analoge Räume schaffen können, die Transformationsprozesse unterstützen und zugleich initiieren. Aber wir stehen ja kurz vor dem Ende der Fussball-EM und Fussball ist ein Spiel. Insofern liegt es nahe, den Ball aufzunehmen und damit ein bisschen zu spielen.

Beginnen wir mit einer bitteren Erkenntnis: Die Deutsche Fußballnationalmannschaft (Herren) hat glorreich gekämpft und ist dann doch – aus meiner Sicht unverdient – ausgeschieden. Es war ein großartiges Spiel und ein toller Abend: wir haben zusammen mit anderen Familien ein Barbecue veranstaltet, schauten Fussball und am Ende spielten die Väter eine Runde Fussball gegen alle Kinder. Die EM mag für die Deutsche Nationalmannschaft zu Ende sein, es war trotzdem ein schöner Abend.

Erst am nächsten Tag habe ich die Pressekonferenz des Bundestrainers Julian Nagelsmann gesehen. Ich fand seine Aussagen sehr spannend. Ob wir nun wirklich Weltmeister werden, werden wir sehen. Aber Julian Nagelsmann sprach vor allem über Zusammenhalt und Kooperation und über die Frage der Wahrnehmung von Situationen. Lösungen entwickeln statt Tristesse erzeugen. Das klang, das klingt gut. Und in einer ersten Reaktion habe ich angefangen, über diese Worte nachzudenken. Ist es so, dass wir zu sehr schwarzmalen? Denken, handeln und kommunizieren wir zu wenig lösungsorientiert? Und von welchen Lösungen sprechen wir? Sicherlich würden sehr viele Menschen von sich behaupten, dass sie doch die ganze Zeit lösungsorientiert agieren – auch wenn die jeweiligen Lösungen zum gleichen Thema sehr unterschiedlich sein können. Und was ist, wenn die Lösungen vermeintlich klar sind, es aber zu keinem Lösungsprozess kommt?

Ich fragte mich auch, wo ich durch manche meiner Statements zu wenig lösungsorientiert agiere, Tristesse etc. erzeuge? Sicher: manchmal muss man Dinge rauslassen. Und wenn ich wieder mit der Deutschen Bahn unterwegs bin – ich tue das ja aus Überzeugung – und ich dann wieder mit zwei Stunden Verspätung ankomme, dafür aber die Klos im ICE kaputt und das Bordbistro geschlossen sind, dann fällt es sehr schwer, lösungsorientiert zu agieren. Aber könnte ich trotzdem an mir selbst etwas ändern, mich selbst weiterentwickeln? (Könnte ich also mein eigener Berater sein?)

Betrachten und Lernen…

Was wir bei der Nationalmannschaft sehen konnten war: es wirkte wie eine geschlossene Gruppe, die an sich glaubte und die gemeinsam etwas erreichen wollte. Grund genug den gesamten Prozess etwas genauer zu betrachten. Und vielleicht können wir ja etwas lernen. Ich habe mir also – aus der Perspektive der Transformativen Gamification – überlegt, warum der Entwicklungsprozess der Nationalmannschaft funktionierte und warum gleichzeitig andere Transformationsprozesse nicht weiterkommen. Natürlich war ich nicht beim Training der Nationalmannschaft dabei und ich kenne Julian Nagelsmann auch nicht persönlich – ein Austausch wäre sicher spannend. Aber ich kann versuchen Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Prozessen zu definieren indem ich die Grundlagen aus der Perspektive des Spiels betrachte:

  • Zielsystem: die Nationalmannschaft hat ein klares Ziel, welches zudem von allen Prozessbeteiligten akzeptiert und unterstützt wird. In diesem Fall war das Ziel der Gewinn der Europameisterschaft. Auch die daraus resultierenden Meilensteine waren klar: wir mussten Spiele gewinnen. In vielen anderen Transformation-Situationen existiert aber kein klares Zielsystem, es ist nicht klar definiert, was überhaupt das Ziel ist und/oder das Ziel wurde nicht von allen beteiligten Personen akzeptiert, verstanden etc. Ein klares Zielsystem ist auch deshalb wichtig, weil damit verbunden Rollen, Handlungen, Meilensteine etc. definiert werden konnten. Im Vorfeld der Europameisterschaft sprach Julian Nagelsmann u.a. über die Parameter, die darüber entschieden, wer in die Mannschaft berufen wird und wer nicht. Es ging nicht nur um spielerische Qualitäten, sondern auch um eine etwaige Rolle im Team etc. In manchen Organisationen ist eher das Gegenteil zu beobachten. Sehr oft erlebe ich ein sehr bekanntes Phänomen: der/die beste Verkäufer*in wir auch Sales Director. In diesen Fällen wird zu wenig gefragt, welche Rolle für die Führung einer Organisation, eines Teams etc. benötigt wird. Eine vorhandene besondere Expertise im Verkauf bedeutet nicht automatisch, dass diese Person auch geeignet ist, ein Team zu leiten. Damit man mich nicht falsch versteht: ich gönne Jeder und Jedem ihre Karriereschritte, aber gerade dann, wenn es um größere Transformationsprozesse geht, sind ganz andere Kompetenzen gefragt. Zusammenfassung: Ohne ein passendes und verbindliches Zielsystem ist keine Veränderung möglich. Auch etwaige „Labore“ und „Kreativ-Hubs“ sollten immer Teil einer Gesamt-Strategie sein.
  • Feedbacksystem: Ein Zielsystem an sich reicht natürlich nicht aus. Benötigt wird auch ein darauf basierendes Feedbacksystem. Und: es muss ein starkes Feedback sein. Das bedeutet, es muss ein Feedback sein, das den Erfolg „feiert“, Aussagen zu Verbesserungen trifft und an die jeweiligen Motivationstrigger der Prozessbeteiligten angepasst ist. Allerdings darf dieses Feedbacksystem nicht dazu führen, dass neue, versteckte Ziele entstehen. Zu Beginn der EM war das Ziel, durch die Gruppenphase zu kommen, das Viertelfinale zu erreichen etc. Schon nach dem ersten Spiel wurde in großer Euphorie davon gesprochen, dass die Nationalmannschaft nun ein Kandidat für den EM-Sieg sei. In vielen Organisationen fehlt ein umfassendes Feedbacksystem. Viele Mitarbeiter*innen wissen nicht, wo sie stehen und ob sie die Ziele der Gesamtorganisation unterstützt oder nicht. Individuelle Karriereschritte, finanzielle Anreize können da sogar kontraproduktiv sein, wenn beispielsweise neue Ziele in Konflikt mit den finanziellen Anreizen oder den persönlichen Karriereschritten stehen. Beim Fussball existiert zudem noch eine weitere Feedback-Ebene: das sind die Fans. Sie geben ein ganz eigenes Feedback welches zudem nicht kontrollierbar ist und welches immer ein eigenes Kulturmodell mit sich bringt. Zusammenfassung: Für Entwicklungsprozesse muss ein nutzbares, umfassendes und auf die Bedarfe der beteiligten Personen zugeschnittenes Feedbacksystem implementiert werden. Dieses soll es den Prozessbeteiligten ermöglichen, sich im Rahmen des Zielsystems zu entwickeln.
  • Regelsystem: Fussball ist ein Spiel und es basiert auf einem Regelsystem. Das Regelsystem muss von allen verstanden und akzeptiert werden und es muss gerecht sein. Es muss für alle Beteiligten gelten und muss das Spiel unterstützen. Dass ein Regelsystem wichtig ist, wird jedem klar sein. Aber bei der EM konnten wir auch beobachten, was passiert, wenn das Regelsystem unterschiedlich ausgelegt werden kann. Bei einem Spiel ist die Berührung des Balls mit der Hand ein Grund für einen Strafstoß, auch wenn die Berührung minimal war und sich der Ball so oder so noch nichtmal in die Richtung des Tores bewegt. Beim nächsten Spiel kann eine viel stärkere Berührung vorhanden und der Ball auf dem Weg ins Tor gewesen sein, und es wird gegen einen Strafstoß entschieden. Die Aufregung ist dann groß, denn alle haben sich auf die Regeln verlassen bzw. nach ihnen gehandelt. Auch diesen Effekt konnte ich in verschiedenen Transformationsprozessen beobachten: entweder waren die Regeln nicht klar definiert (Regeln bedeuten nicht nur etwaige Vorgaben und Richtlinien, sondern ein Framework, nachdem eine Organisation agiert und auf das sich alle verlassen können) oder die Regeln waren viel zu eng definiert und so gab es keine Freiräume mehr. Noch problematischer ist es aber, wenn Regeln immer wieder abgeändert werden und diese Regeländerungen nicht ausreichend vermittelt werden. Zusammenfassung: in jedem Transformationsprozess bzw. in jeder Organisation existieren Regeln. manche davon sind offen definiert, andere gelten nur in kleinen Gruppen oder gelten als gemeinhin akzeptiert. Es ist wichtig, diese Regelmodelle zu analysieren und sie in einem für alle nutzbaren Format zu kommunizieren. Zudem: es sollen nur die Regeln gelten die allgemein definiert wurden.
  • Wettbewerb und Strategie: Fussball ist ein Strategiespiel. Es ist kein linearer Ansatz, denn es gibt immer zwei Gruppen mit konkurrierenden Strategien. Aber das Wechselspiel der Strategien inkl. des damit verbundenen Einsatzes der Spieler*innen ist der Kern von Fussball. Es mag die großen Zauberer, die großen Stars geben – aber der FC Barcelona hätte mit elf Lionel Messi keinen Blumentopf gewonnen. Fussball ist ein strategischer Mannschaftssport. Und das bedeutet, moderne Trainer*innen müssen nicht nur die Strategien verstehen und anwenden können. Sie müssen sich auch um das Balancing innerhalb des Teams kümmern. Mir ist bewusst, dass „Strategie“ irgendwie langweilig klingt. Sehr oft möchte man „endlich ins Machen kommen“, man möchte „neue Wege gehen“ und hört das Sätze wie „der Wandel muss gelebt werden“. Wenn ich im Kontext von Transformationsprozessen von Strategie spreche, dann geht es um das strategische Entwickeln von Rahmenbedingungen, in denen Wandel möglich ist und in denen Menschen kollektiv an ihrer Transformation arbeiten. Es geht also weniger darum, alles vorzugeben, sondern vielmehr zu unterstützen, zu inspirieren und ja, die grundsätzliche Entscheidung zu treffen, dass der Weg der Veränderung gegangen wird. Zusammenfassung: Transformation bedeutet nicht Anarchie. Und Transformation muss mit einer Strategie verbunden werden bzw. auf einer solchen basieren.

Diese vier miteinander verbundenen Perspektiven zeigen aus meiner Sicht das Potential der Transformativen Gamification. Die Gegenüberstellung von Prozesslogiken und den Logiken des Spiels kann aufzeigen, wo in einem Prozess Verbesserungen möglich sind. Ich nutze die Logik des Spiels, weil die „Kulturtechnik Spielen“ eine angeboren Fähigkeit ist, die grundsätzlich bei allen Menschen vorhanden ist, unabhängig von Alter, Geschlecht, sozialem Status, Bildungshintergrund etc.

Der Vollständigkeit halber möchte ich erwähnen, dass es nicht(!) darum geht, alle Prozesse nur noch nach der Logik des Spiels auszurichten. Es mag manchmal gute Gründe geben, warum keine umfassende und nachhaltige Transformation-Strategie vorhanden ist oder warum es kein klares Regelsystem gibt. Aber: die hier skizzierten Ansätze helfen, Defizite zu identifizieren und sich einen neuen Optionsraum zu erschließen.

Ich werde noch einige Beiträge zum Thema Gamification schreiben und dabei weitere Aspekte des Themas beleuchten. Dabei soll es auch um die Risiken etc. gehen. Am Ende gleicht kein Prozess dem anderen, denn alle Prozesse werden von Menschen erdacht und vor allem umgesetzt. Gleiches gilt für das Spiel: ich kann nicht definieren, wie es ist, das Spiel XY zu spielen. Ich kann nur Rahmenbedingungen, Mechaniken und Regeln definieren, die dazu führen, dass Menschen gerne spielen bzw. sich gerne weiterentwickeln.

Beste Grüße

Christoph Deeg

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