Liebe Leser*innen,
ich sitze wieder im Homeoffice. Gestern Nacht kam ich aus Bern zurück – quasi pünktlich. Ich erlebe zunehmend, wie sich meine Erwartungshaltung gegenüber der Deutschen Bahn ändert – eine Stunde Verspätung ist das neue pünktlich. Und egal mit wem ich über die Deutsche Bahn spreche: Alle erzählen, dass sie bei wichtigen Terminen immer mindestens zwei Stunden Verspätung einplanen, also zwei Züge früher nehmen. Nun gestern waren es nur 10 Minuten Verspätung. Also war ich überpünktlich. Und damit man mich nicht falsch versteht: ich fahre aus Überzeugung Bahn. Ich besitze kein Auto und halte Bahnfahren zumindest in der Theorie für etwas ganz Besonderes: ich kann im Zug arbeiten, lesen, nachdenken etc. Natürlich nur, wenn die Klimaanlage nicht wieder versucht – der ICE ist echt ein Schrottzug – aus dem Zug einen Eisschrank zu machen und wenn nicht wieder die Toiletten kaputt und/oder verdreckt sind und der Zug nicht hoffnungslos überfüllt ist. Immerhin: die Zugbegleiter*innen nehmen es mit Humor und der Zustand der Deutschen Bahn ist schon seit Jahren Teil der Deutschen Popkultur. Die Bahn ist wichtig und das Verkehrsmittel der Zukunft, aber im Moment ist sie vor allem ein Beispiel für den Teils desolaten Zustand unserer Infrastruktur.
Das alles hat Auswirkungen, nicht nur auf Bahnreisende, sondern auf alle Menschen, die beruflich und/oder privat reisen und gegebenenfalls darüber nachdenken, das Auto öfter stehen zu lassen (wenn dies in ländlichen Regionen überhaupt möglich ist) oder es gar abzuschaffen. Innerhalb der „Bahn-Fahrer-Community“ aber auch bei den Personengruppen, die nur selten oder gar nicht Bahn fahren, entwickelt sich eine kollektive Wahrnehmung bzgl. dieses Themas. Und in zunehmendem Maße verselbstständigt sich dieser Effekt. Positive Erfahrungen mit der Bahn (es gibt sie wirklich!) werden übersehen oder ignoriert. Zudem wir die Bahn zu einem Symbol des Stillstands der Transformation unserer Gesellschaft. Der Klimawandel kann ohne die Bahn nicht bekämpft werden und unsere Städte bräuchten mehr Grünflächen, mehr Kultur- und Bildungsorte und mehr sozialen Wohn- und Lebensraum. Im Moment benötigen die vielen Autos zu viel Platz. Warum aber sollen Menschen auf das Auto verzichten, wenn die alternativen Angebote so dermaßen schlecht sind (Ist-Zustand) und auch nicht erkennbar ist, dass es wirklich besser wird (Optionsraum?).
Willkommen Transformationsgedächtnis
Was wir hier erleben, ist ein gutes Beispiel für das, was ich das Transformationsgedächtnis nenne. Jeder Mensch, aber auch jede Organisation, jedes Kollektiv verfügt über ein eigenes Transformationsgedächtnis. In ihm werden die individuellen und kollektiven Erfahrungen mit Veränderung gespeichert. Diese Erinnerungen werden aber nicht nur „archiviert“, sondern auch individuell und kollektiv bewertet. Anders ausgedrückt: es entsteht ein Wahrnehmungs-Modell, mit dem auch festgelegt wird, wie wir auch zukünftige Transformationsprozesse angehen und bewerten.
Transformationsgedächtnis vs. Transformations-Narrative
Die Entwicklung des Transformationsgedächtnisses ist kein gesteuerter Prozess und er ist auch nicht zu verwechseln mit etwaigen Transformations-Narrativen, also „offiziellen“ Darstellungen zurückliegender Veränderungsprozesse. Transformations-Narrative sind Zusammenfassungen und sind in der Regel zielgerichtet. In den meisten Fällen soll ein positives Gefühl erzeugt werden, welches für zukünftige Veränderungsprozesse Mut macht (z.B. „wir schaffen das“). Das Transformationsgedächtnis ist komplexer, da es die einzelnen Stränge nicht zusammenfasst. Die einzelnen Perspektiven existieren weiter und es entstehen Wechselwirkungen und Rückkopplungseffekte. Ein Transformationsgedächtnis muss nicht zwangsweise negativ sein. Aber, es basiert auf realen Erfahrungen und kann nicht von außen „überschrieben“ werden.
In meiner Arbeit spielt das Transformationsgedächtnis eine große Rolle. In allen Projekten, bei denen es um Transformation geht, versuche ich zu Beginn, das Transformationsgedächtnis zu finden und es zu analysieren. Das ist gar nicht so einfach, denn es gibt in der Regel keine zusammenfassende Aufzeichnung darüber. Es gibt keinen Ordner „Transformationsgedächtnis“ auf einem internen Laufwerk – auch wenn die Erstellung ein sehr spannender, aber auch komplexer Prozess wäre. Zudem existieren viele verschiedene Versionen, da alle Mitglieder einer Organisation daran beteiligt bzw. damit verbunden sind und immer wieder eigene Erfahrungen beitragen, miteinander interagieren etc. Um das Transformationsgedächtnis zu finden, muss man mit den Menschen einer Organisation sprechen. Man muss ihnen zuhören und Orte/Momente schaffen, bei denen die verschiedenen Perspektiven sichtbar werden. Hierfür kann man beispielsweise spezielle Workshopformate umsetzen oder auch digital miteinander kommunizieren.
Das Entstehen einer Idee
Die Idee des Transformations-Gedächtnisses ist bei mir im Laufe einiger Jahre entstanden. Ich erlebte immer wieder, dass Transformationsprozesse scheiterten, obwohl auf den ersten Blick alles richtig gemacht wurde: es wurden Rahmenbedingungen geschaffen, die Veränderung ermöglichten und verstärkten. Es wurden Ressourcen zur Verfügung gestellt und es wurden viele neue Muster erzeugt. Es wurde viel über neue Rollen und Ziele gesprochen, man durfte sich ausprobieren und die Menschen wurden schon bei der Entwicklung des Prozesses einbezogen: sie sollten den Transformations-Prozess zu ihrem Prozess machen können. Aber egal, wie gut alles durchdacht war, irgendetwas fehlte. Und nach einigen Gesprächen wurde mir klar, wir hatten den Transformationsprozess nur in die Zukunft gedacht. Ausgehend vom Ist-Zustand wurde sich darauf konzentriert, eine neue Zukunft zu definieren (klingt ja auch viel spannender als die Vergangenheit, die ja verbessert werden soll). Die vergangenen Transformationen, sowohl individuell als auch kollektiv wurden überhaupt nicht berücksichtigt. Dies betraf sowohl negative als auch positive Aspekte. In einem Projekt bekam ich dann die Möglichkeit, mich intensiv mit der Vergangenheit einer Organisation zu beschäftigen und ich fand Muster, Denk- und Handlungsweisen, Ideen und Ängste, die in keiner Planung berücksichtigt worden waren. Die Einbindung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen hatte zwar stattgefunden, jedoch bezog sich dies immer nur auf die (mögliche) Zukunft aber nie auf die Vergangenheit. Nachdem ich das Transformationsgedächtnis der Organisation angezapft hatte, konnte ich in einem nächsten Schritt die positiven Muster verstärken, die negativen Erfahrungen ebenfalls in den Fokus nehmen und mit dem Team gemeinsam daran arbeiten, dass sich die negativen Aspekte nicht wiederholen. Dies führte auch zu einer viel realistischeren Planung des Prozesses und: ich konnte so ein viel besseres Ziel- und Feedbacksystem entwickeln, welches dann – hier kommt wieder die Gamification ins Spiel – die Anwendung der „Information Transparency“ ermöglichte.
Das Transformationsgedächtnis ist eine wichtige Ressource für Veränderung. Es kann eine Schatzkiste oder auch ein dunkles Verlies sein. Wenn wir vorhandene Organisationen verändern wollen, müssen wir verstehen, wie diese Organisation bisher solche Prozesse wahrgenommen und entwickelt hat. Es geht dabei nicht um das Ergebnis der Prozesse, sondern um die Prozesse an sich. Dieses Modell ist kein kleines Beiwerk. Es ist vielmehr ein Schlüssel für erfolgreichere und zugleich effizientere Veränderungen und Weiter-Entwicklungen. Es bedeutet aber auch, dass man das Transformationsgedächtnis als Ressource und nicht als Problem versteht. Und man muss in der Lage sein, die darin enthaltenen Informationen zu übersetzen.
Was man noch alles sagen und schreiben könnte…
Dieser Beitrag soll eine gedankliche Grundlage für das Konzept des Transformationsgedächtnisses schaffen. Das Thema ist weitaus komplexer und ich werde deshalb noch einige weitere Beiträge hierzu veröffentlichen. Dabei werde ich unterschiedliche Perspektiven auf diesen Ansatz beleuchten und möchte dabei u.a. folgende Fragen beantworten:
- Welche Elemente sind Teil des Transformationsgedächtnisses?
- Aktive und passive Formen des Transformationsgedächtnisses?
- Wie kann ich das Transformationsgedächtnis sichtbar und greifbar machen?
- Wie wirken die individuellen und die kollektiven Erfahrungen aufeinander?
- Wie kann man das Transformationsgedächtnis nutzen, um zukünftige Transformationsprozess besser zu gestalten?
- Wo kann Digitalität helfen, das Transformationsgedächtnis zu erfahren und zu gestalten?
- Welche Formen und Mechaniken der „transformativen Gamification“ sind hier hilfreich?
- Wo liegen Schnittstellen zu anderen Ansätzen und Modellen und wo liegen die Grenzen dieses Ansatzes?
- Inwieweit ist dies – bei großen Organisationen – auch ein Thema und/oder Werkzeug für das Internal Audit oder das Risikomanagement?
Diese Beiträge werden in den nächsten Wochen erstellt und veröffentlicht. Zudem wird das Thema auch in meinem neuen Podcast besprochen werden.
Beste Grüße
Christoph Deeg