Liebe Leser,
heute denke ich über digitale Echokammern und digitale Enttäuschungen nach. „Die Digitalisierung ändert alles“, diesen Satz haben wir so oft gehört und die Aussage stimmt natürlich. Aber ich habe das Gefühl, dass wir zu selten darüber nachdenken, was dieses „Alles“ eigentlich ist, und was in diesem „Alles“ eigentlich geändert wird?
In meiner Arbeit gehe ich immer vom Konzept der digital-analogen Lebensrealitäten aus. Das bedeutet, jeder Mensch entscheidet individuell und situativ über den Anteil des Digitalen und des Analogen in seinem/ihrem Leben und über die damit verbundenen Funktionen. So entsteht ein umfassender Optionsraum. Es gibt nicht mehr diesen einen, linearen Weg. Es gibt vielmehr immer neue Muster und Prozesse und es ist nahezu unmöglich, alle diese Muster und Prozesse zu verstehen oder gar zu gestalten.
In einem solchen Optionsraum ist vieles möglich und schon immer war „das Web“ eine Projektionsfläche für viele unterschiedliche Gruppen. Ich dachte beispielsweise, dass mit diesem Ansatz neue, demokratische und vernetzende Räume entstehen werden. Ich dachte, dass wir mehr miteinander kommunizieren und viel genauer und konkreter gesellschaftliche Prozesse umsetzen können. Ich dachte auch, dass durch Digitalisierung neue Zugänge zu Wissen und Kultur möglich wären. Manche dachten, dass wir neue und vor allem nachhaltige Geschäftsmodelle entwickeln könnten. Es gab und gibt so viele unterschiedliche Ansätze.
Nun ist es so, dass alle diese Ansätze durchaus umsetzbar sind und in Teilen auch umgesetzt werden. Aber so einfach wie es klang ist es dann doch nicht. Denn die Technologie an sich schafft keinen „Weltverbesserungs-Prozess“. Technologie ist nur Technologie. Die Frage ist, ob und wenn ja, wie wir diesen Optionsraum gestalten wollen und können und wer festlegt, mit welchen Zielen das geschieht. Denn ich kann all diese spannenden Technologien auch nutzen, um Menschen zu kontrollieren und zu manipulieren.
Und dann gibt es diese Echokammern in denen die immer gleichen Bubbles existieren. Anstatt sich mit Menschen und Gruppen zu vernetzen, die anders sind und dann mir durch ihre Diversität die Möglichkeit geben, mich weiterzuentwickeln (vgl. Prof Kruse „Kreativität“), schaffen wir uns einheitliche Kammern, in denen wir vielleicht uns selbst wiederfinden, die uns aber vom Rest der Welt abkoppeln. Wir verlernen das Zuhören und bewegen uns von einer Wahrnehmungs- und Bewertungs-Logik. Im digitalen Raum dürfen wir bewerten. Wir dürfen Punkte und Sterne vergeben und haben dann das Gefühl, wir würden mit diesen Handlungen das Internet offener und demokratischer gestalten. Aber längst gibt es Agenturen, die mit solche Bewertungen handeln und fünf Sterne bei einem Projekt helfen mir erst dann, wenn ich zusätzlich einen möglichst umfassenden Text habe, der mir die Kontexte der Bewertung darstellt. Ansonsten kann ich die Bewertung gar nicht einordnen.
Der digitale Raum eignet sich zwar für Bewertungen, spannender und wichtiger ist aber der Austausch von Wahrnehmungen. Gerade bei gesellschaftlichen ist die Wahrnehmung wichtiger als die weitergehende Bewertung. Die Bewertung sollte immer auf Basis eines Diskurses geschehen, während die Wahrnehmung durchaus ein individuelles Modell sein kann.
Ein Beispiel: Wir diskutieren im Moment viele gesellschaftliche Fragestellungen. Nehmen wir die Diskussion um das Gendern. Vereinfacht ausgedrückt gibt es zwei Gruppen: es gibt die Gruppe derer, die das Gendern verlangen und diejenigen, die es ablehnen. Und wenn immer eine Diskussion darüber beginnt, wird in der Regel nie über die eigene Wahrnehmung gesprochen, sondern es findet eine Bewertung statt. Ich kann durchaus akzeptieren, dass Menschen sich überfordert fühlen, wenn es um das Gendern geht. Ich kann auch verstehen, wenn sie sich mit diesen sprachlichen Modellen nicht wohlfühlen. Ich akzeptiere auch, wenn sich Menschen nicht mitgenommen fühlen. Alles das sind Wahrnehmungen und über diese können wir diskutieren und miteinander etwas Neues entwickeln. Wenn ich aber in die Bewertung gehe, dann ist der Austausch kaum noch möglich. Dann kommen die Emotionen und in den Echokammern werden diese massiv verstärkt. Wenn ich nur noch fordere, das Gendern müsse aufhören oder umgekehrt alles müsse quasi per Naturgesetz gegendert werden, habe ich keinen Spielraum für Aushandlungen. Und: ich verstehe dann gar nicht, was mein Gegenüber – eigentlich – sagen möchte.
Dabei wäre es möglich Digitalisierung zu nutzen, um genau diesen Austausch von Wahrnehmungen zu ermöglichen. Dafür müssen wir aber die Echokammern aufbrechen und das Web so gestalten, das halbfertige Gedanken und Ideen sowie Wahrnehmungen als Ressource für etwas Neues verstanden werden und existieren können. Denn: in Systemen, in denen man sich nur anbrüllt und Bewertungen austauscht, entsteht kein Erleben einer Selbstwirksamkeit und kein Ownership im Sinne eines gestalterischen Prozesses.
Das alles kostet Ressourcen. Und das ist einer der Gründe, warum wir aufhören müssen, sinnloses Online-Marketing umzusetzen. Die meisten Kampagnen sind eher inhaltsleer und verstopfen das System. Oder anders ausgedrückt: so lange Organisationen ihre Digital-Budgets so aufstellen, dass der Großteil der Budgets für Online-Marketing ausgegeben wird, ist eine nachhaltige Entwicklung des Internets nicht möglich.
Herzliche Grüße
Christoph Deeg