Liebe Leser,
ich sitze gerade im Zug nach Nürnberg. In den letzten zwei Wochen war ich vor allem international unterwegs. Zum einen war da die 1,5 wöchige Workshopreise durch die Schweiz zum Thema Gaming/Gamification. Hierfür hatte ich mein mobiles Gaming-Labor dabei, d.h. neben einem theoretischen Input zum Thema haben wir vor allem eine Vielzahl an Computerspielen gespielt und zudem überlegt, wie man das alles im Kontext von Bildung und Kultur nutzen kann. Es war eine sehr spannende Zeit mit sehr unterschiedlichen Gruppen und Fragestellungen. Vor allem für wissenschaftliche Bibliotheken ist das Thema absolutes Neuland und es geht auch nicht darum, Fifa-Events durchzuführen etc. Vielmehr geht es darum, die Bibliothek als technologischen und ebenso inhaltlichen Innovationsträger einer Universität zu positionieren.
Ausgehend von der Erkenntnis, dass wir nun sowohl auf Seiten der Lernenden als auch auf Seiten der Lehrenden in zunehmenden Maße intensive Gaming-Erfahrungen vorfinden und Games komplexe Lernplattformen sind, ergeben sich vielfältige Möglichkeiten für neue Formen der Kultur- und Wissensvermittlung. Und ich bin nach wie vor der Meinung, dass Gaming/Gamification die zentrale Komponente bei der Digitalisierung unserer Gesellschaft ist. Gaming/Spielen ist etwas, was wir sowohl analog als auch digital tun – und in beiden Bereichen ist es ein Massenphänomen. Gerade bei der Vernetzung der analogen mit der digitalen Welt ist dies relevant. Oder was wären Konzepte wie z.B. Makerspaces ohne Spiel?
Nach einem Zwischenstopp in Bielefeld, wo ein Leitungstreffen von 13 Bibliotheken stattfand, die ich – in diesem Projekt zusammen mit Wibke Ladwig – für 1,5 Jahre in die digitale Welt begleite, ging es dann zum Flughafen Frankfurt/Main und von dort nach Astana in Kasachstan. Hier ging es um einen Workshop zur Entwicklung von geo-based-games. Neben der Entwicklung von Ideen und Konzepten ging es vor allem um die Recherche vor Ort. Denn erst wenn man verstanden hat, wie die Menschen die ich erreichen will, leben und denken, kann ich ein dazu passenden Spiel entwickeln.
Astana ist eine unglaubliche Stadt. Ich habe ja schon einiges gesehen – aber das hat mich umgehauen. Es handelt sich um die Hauptstadt Kasachstans und sie wurde mehr oder weniger erst in den letzten 20 Jahren errichtet – bzw. zumindest das, was heute Stadt ist und Astana ist ein komplett anderes Lebensgefühl. Die Stadt ist nicht gewachsen – sie wird einfach geschaffen und was auf den ersten Blick künstlich wirkt, hat einen ganz eigenen Charme und lässt einen manchmal völlig überdreht zurück. Ja, natürlich macht man sich so seine Gedanken, wenn an einem Ort in 20 Jahren eine ganze monumentale Stadt entsteht – 2017 findet dort zudem die Expo statt -, und wir im fast gleichen Zeitraum einen Flughafen nicht bauen. Es ist einer dieser Orte, an denen Veränderung scheinbar etwas ganz normales ist.
Ich mag solche Orte unglaublich gerne. Dabei geht es weniger um das Ergebnis an sich, als vielmehr um die Erkenntnis, was alles bzw. das alles möglich ist. In meinem Beruf habe ich es zu 70% mit Menschen zu tun, die durch die Digitalisierung vor komplett neue Herausforderungen gestellt werden. In sehr vielen Unternehmen und Institutionen wird ein sehr großer Aufwand betrieben, um all diejenigen, die keine Veränderungen wollen und sie sogar verhindern wollen. Unabhängig davon, ob ich dies nun verstehen kann oder nicht – auf die individuelle Person bezogen kann ich dies zumeist sogar nachvollziehen – ist dies vor allem für diejenigen ein Problem, die diesen Weg unbedingt gehen wollen bzw. zumindest offen sind. Für diese Gruppe gibt es zumeist keine Angebote bzw. nur wenig Unterstützung. Sie müssen sich teilweise sogar für ihre Arbeit rechtfertigen. Und nur äußerst selten gibt es hier eine strategische Mitarbeiterförderung. Aber gleichzeitig sollen sie bitte den Kollegen helfen und sie aktivieren. Es ist kein Wunder, dass gerade dann immer mehr dieser Mitarbeiter gefrustet sind und aufgeben. An Orten wie Astana kann man erleben, dass Veränderung, dass Wandel möglich ist und etwas Spannendes erschaffen kann ohne dabei die eigene Identität zu verlieren.
Die Basis für all das ist Neugierde und Offenheit. Und in sehr vielen Fällen möchten wir andere Menschen dazu bringen, neugierig zu sein oder zu bleiben. Unternehmen möchten, dass Kunden ihre neuen Produkte kaufen oder sich für neue Themen öffnen. Schulen und Bibliotheken möchten, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene offen für Neues sind, neugierig agieren und sich auf Themen einlassen, die sie vielleicht gar nicht interessieren. Aber wie wollen Unternehmen, Schulen, Bibliotheken, Museen etc. Neugierde und Offenheit fördern, wenn sie selber nicht neugierig sind? Wie wollen Bibliotheken, Volkshochschulen etc. die Menschen beim sog. lebenslangen Lernen begleiten, wenn sie selber nicht lebenslang lernen? Und warum soll ein Kunde/Schüler etc. etwas neues lernen, wenn ältere Mitarbeiter/Lehrer/Bibliothekare die Aussage treffen, man sei jetzt in einem Alter, in dem man die neuen Sachen nicht mehr lernen wolle und müsse? Was wir brauchen ist weniger Bewahren und Bedenken und mehr Ausprobieren und Gestalten.
In diesem Sinne werde ich diese Woche eine Vielzahl an Workshops durchführen – und wenn alles gut geht, bin ich bald wieder in Astana…
Beste Grüße
Christoph Deeg