Das Mittwochs-Thema: Lasst uns nochmal über Gamification sprechen

Liebe Leser,

ich bin auf dem Weg von Wien nach Hause. Ich sitze im ICE, der natürlich Verspätung hat. Niemand würde ernsthaft erwarten, dass man bei Reisen mit der Deutschen Bahn pünktlich nach Hause kommt, einen vollfunktionsfähigen und sauberen Zug vorfindet und auch noch später ein offenes Bord-Bistro besuchen kann. Man gewöhnt sich so langsam daran, dass dieses Bahn-Chaos zu unserer Lebensrealität gehört.

In den letzten beiden Tagen habe ich einen Workshop zur Nutzung von künstlicher Intelligenz für die Entwicklung und Umsetzung von Prüfungen und der Erstellung von damit verbundenen Prüfberichten für die interne Revision durchgeführt. Es waren zwei sehr spannende Tage. Ich hatte für den Workshop ein eigenes K.I.-Modell trainiert und es funktionierte besser als erwartet. Wir haben uns aber nicht nur über die vielen (Un-)Möglichkeiten in der Nutzung von künstlicher Intelligenz unterhalten, auch Themen wie Ethik oder die Einbindung von K.I. in eine umfassende und nachhaltige Digital-Strategie waren wichtige Themen. Was mir in diesem Workshop mal wieder klar wurde ist, wie wichtig es ist, solche Themen abseits der vielen Heilsversprechen und der damit verbundenen Euphorie anzugehen. Und es ist wichtig, immer wieder ein gemeinsames Verständnis des Themas zu entwickeln. 

Wovon ich rede, wenn ich von Gamification rede…

Ein gemeinsames Verständnis entwickeln, das ist auch beim Thema Gamification wichtig. Dieses Thema begleitet mich nun schon seit zwanzig Jahren und ich bin noch immer der Meinung, dass Gamification ein sehr spannendes und relevantes Werkzeug im Kontext bei Transformationsprozessen sein kann, deshalb auch der Begriff der „Transformativen Gamification“.

Leider existieren sehr viele Mythen etc. zu diesem Thema und in vielen Fällen wird Gamification nur als Label für Prozesse genutzt, die damit überhaupt nichts zu tun haben, oder sogar den Prinzipien der Gamification widersprechen. Deshalb möchte ich ein paar Beiträge zu diesem Thema erstellen und hier veröffentlichen. Beginnen wir am besten von vorn: was bedeutet eigentlich Gamification?

Eine Definition ist verhältnismäßig einfach: Gamification bedeutet die Anwendung von Spielmechaniken in Nicht-Spiel-Kontexten bzw. Nicht-Spiel-Prozessen. Anders ausgedrückt: handelt es sich beim Ergebnis um ein Spiel, kann es keine Gamification sein. Dieser Punkt ist wichtig, denn es gibt sehr viele Berater*innen und Unternehmen, die von sich behaupten, im Bereich Gamification aktiv zu sein, aber letztlich Spiele entwickeln. Diese Spiele mögen spannend sein und konkrete Mehrwerte bringen, es geht dabei aber nicht(!) um Gamification. Dieser Punkt ist auch deshalb wichtig, da eine Wirkung außerhalb des Spiels niemals automatisch geschieht. Es bedarf dann einer Übersetzungsfunktion. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob ich ein Spiel spiele und die damit verbundene Erfahrung in die „Realität“ übertragen muss, oder ob ich direkt einen realen Prozess durch Spielmechaniken und/oder Spiellogiken verändere bzw. erweitere. 

Welcome to the world of game-mechanics

Gamification bedeutet die die Anwendung von Spielmechaniken. Aber welche sind das? Es gibt verschiedene Perspektiven auf diese Fragestellung. Aus meiner Sicht existieren ca. 150 unterschiedliche Spielmechaniken, die jeweils verschiedene Wirkungen erzeugen können. Zudem kann man alle Spielmechaniken miteinander kombinieren. Es besteht somit ein riesiger Optionsraum an Anwendungen und damit verbundenen Wirkungen. Ich möchte dies anhand eines einfachen Beispiels beschreiben:

Eine meiner absoluten „Lieblingsmechaniken“ ist die sog. „Information Transparency“. Sie besagt, dass alle Informationen, die die Spieler benötigen, um das Spiel zu spielen im Spiel enthalten und zugleich nutzbar sein müssen. Übersetzt in reale Prozesse bedeutet dies, dass alle Informationen, die Menschen benötigen, um einen Prozess umzusetzen, diesen Menschen zur Verfügung bzw. so zur Verfügung gestellt werden müssen, dass sie im Prozess genutzt werden können. Das klingt einfach, der Teufel steckt wie immer im Detail, denn daraus ergeben sich einige Fragen:

  • Ist überhaupt klar, welche Informationen im Prozess enthalten sind?
  • Ist zudem klar, welche Informationen benötigt werden, um den Prozess umzusetzen?
  • Ist analysiert worden in welchen Formaten die Informationen dargestellt bzw. erfahrbar gemacht werden können?
  • Ist analysiert worden, wie die Zielgruppe die Informationen am besten nutzen kann?
  • Wurde ein klares Zielsystem definiert, welches zugleich eigene Entscheidungen auf dem Weg zum Ziel beinhaltet? (Wenn man einen rein linearen Prozess hat, dem man nur schrittweise abarbeiten muss, ist die Motivation für die Umsetzung viel geringer als in multioptionalen Prozessen, bei denen ich in bestimmten Bereichen eigene Entscheidungen treffen kann. Je mehr eigener Entscheidungsspielraum desto stärker wird „Ownership“ generiert – aus einem extrinsisch vorgegebenen Prozess werden zunehmend intrinsisch motivierte Handlungen)
  • Ist die soziale und kulturelle Lebensrealität der Zielgruppe berücksichtigt worden?
  • etc.

Information Transparency bedeutet also nicht nur, dass man Informationen zur Verfügung stellt und diesbezüglich für Transparenz sorgt. Man muss ebenso diese Informationen so zur Verfügung stellen, dass sie verstanden werden und dass eine Nutzung direkt möglich ist um im Prozess eine zielgerichtete Wirkung zu erzeugen. Ich habe mir in den letzten Jahren sehr viele Prozesse angesehen und in vielen Fällen war keine Information Transparency zu finden. Aus meiner Sicht wäre dies aber möglich und sinnvoll gewesen. Ich möchte anhand eines sehr einfachen Beispiels die mögliche Wirkung dieser Spielmechanik in realen Prozessen beschreiben: Die Kommunikation über den Klimawandel aus Sicht der Information Transparency:

Kann man Klimaschutz gamifizieren?

Wir haben einen menschengemachten Klimawandel, der einen nie dagewesenen Transformationsprozess erzeugt. Der Umbau unserer Gesellschaft, unseres Wirtschaftssystems, unserer Gewohnheiten und Lebensrealitäten hat gerade erst begonnen. Aber wo setzt man an? Was können Menschen tun, um ihren Teil zum Klimaschutz beizutragen? Ich habe hierfür im Internet nach Plattformen gesucht, die helfen könnten. Meine Suche brachte jedoch kein zufriedenstellendes Ergebnis. Es gibt eine Vielzahl an Plattformen, die – sehr allgemein gehalten – darstellen, was man anders machen sollte. Man soll nicht mehr Fliegen und/oder sich vegan ernähren, man soll Recycling betreiben und im Winter nicht so stark heizen und auf Reisen am besten nur im Zelt schlafen, etc. 

Manchmal gibt es auch sehr rudimentäre Rechner. Hier werden verschiedene Fragen z.B. zum Reiseverhalten, zu Essgewohnheiten und zum Wohnen gestellt. Man bekommt dann ein sehr allgemeines Feedback. Manchmal war es egal, was man aussuchte, denn sobald man angab, dass man auch fliegen würde, war sowieso jede andere Aktivität obsolet geworden, da dies laut Rechner mit Abstand den größten CO2-Ausstoss erzeugte. Es fehlten leider auch Szenarien für Alternativen. Ich selbst mag auf ein Auto verzichten können (wir haben seit Jahren kein eigenes Auto), da ich sehr zentral in einer Stadt wohne, Car-Sharing nutzen kann und ansonsten alles mit dem Fahrrad mache. Aber schon 20 Kilometer weiter außerhalb von Nürnberg, existiert kein Car-Sharing, keine passende ÖPNV-Infrastruktur etc. Anders ausgedrückt: man fokussierte sich bei diesen Plattformen auf das, was man alles nicht schaffte aber nicht auf das, was als nächstes möglich wäre und was man schon alles erreicht hatte. Letzteres wäre besonders wichtig, weil man auf diesem Weg lernt, dass man diese vielen Transformations-Schritte gehen kann.

Keine der von mir besuchten Plattformen entsprach der Logik der Information Transparency. Keine der Plattformen versorgte mich mit den für mich relevanten Informationen und die Darstellung der Daten geschah nur selten in einem Format, welches Menschen motiviert, sich mit dem Thema zu befassen oder gar den eigenen Transformations-Prozess anzugehen. Im Gegenteil: man erfuhr zumeist, was man alles nicht machen sollte aber nicht, was auf der anderen Seite möglich wäre. Das Ganze wurde in einigen Fällen verstärkt durch Beiträge von Personen, die darauf verwiesen, dass Verzicht bei diesen ganzen Punkten doch kein Problem sei und sie ein gutes Beispiel dafür wären. Das Problem: diese Menschen haben sich bewusst und intrinsisch für diese Lebensform entschieden. Manche dieser Plattformen verfügen zudem über die Möglichkeit der Interaktion, beispielsweise in Form einer Kommentarfunktion. Kritische Stimmen bekommen hier aber immer wieder gesagt, dass das nun mal so sein müsse, da der Klimawandel ansonsten noch schlimmer werden würde. Wahrscheinlich machte diese Diskussion keiner Seite wirklich Spaß…

Damit man mich nicht falsch versteht: Der Klimawandel ist Realität und wir müssen extrem viel dagegen tun. Und ich kann die Menschen verstehen, die keine Lust haben, immer wieder alles erklären zu müssen. Aber aus Sicht der Information Transparency fehlt ein neuer Ansatz, der sich nochmals anders mit der Vermittlung des Themas beschäftigt, der Options- und damit Erfolgsräume aufzeigt und in dem eigene Entscheidungen möglich sind. 

Eine Idee unter vielen…

In Kombination mit einer K.I. und/oder einer App (es gibt sicherlich auch andere Technologien) könnte man beispielsweise einen individuellen Assistenten erstellen, der mich in meinem täglichen Leben begleitet. Dieses System sollte in der Lage sein, auf meine individuellen Lebensrealitäten, Wünsche und Bedarfe zu reagieren und mit verschiedene Entwicklungspfade aufzeigen, die ich dann umsetzen kann. Das System sollte kontinuierlich neue Optionen, Ziele etc. zur Verfügung stellen. Und es sollte externe Effekte wie beispielsweise den technologischen Fortschritt berücksichtigen können, beispielsweise im Bereich der Mobilität. Das System müsste in der Lage sein, sehr viele kleinteilige Prozesse darzustellen und mir auch die Elemente zu zeigen, für die ich aufgrund meiner aktuellen Lebensrealität noch nicht bereit bin. Es müsste möglich sein, das System zu trainieren und sich mit anderen Personen zu vernetzen. 

Dieser digitale Assistent ist nur ein Beispiel für eine mögliche Umsetzung. Es wären auch andere Umsetzungen denkbar inkl. analoger Formate. Wichtiger ist die Erkenntnis, dass die vorhandenen Formen der Vermittlung des Themas aus meiner Sicht durch die Anwendung dieser einen Spielmechanik erweitert bzw. verbessert werden könnten.

Natürlich löst Gamification nicht alle unsere Probleme und es gibt auch Anwendungen, bei denen andere Ansätze erfolgsversprechender sind. Aber Gamification sollte immer eine Option sein. Und: der Assistent ist kein Spiel, kein neuer Prozess. Er soll vielmehr den vorhandenen Prozess (in diesem Fall den individuellen Transformationsprozess im Kontext des Klimawandels) unterstützen.

Ich habe den Ansatz der Information Transparency schon in vielen Projekten umgesetzt und in den meisten Fällen war dies ein sehr erfolgreicher Prozess. Aktuell nutze ich das Konzept, um die interne Kommunikation bzw. die interne Zusammenarbeit einer international tätigen Organisation zu verbessern. Und ich werde das Konzept auf dem morgigen (27.06.2024) Gamification-Event „50 Shades of Games“ in Nürnberg diskutieren.

Gamification kann wirken – Gamification kann bewirken…

Beste Grüße

Christoph Deeg

Noch ein paar weitere Daten:

Ein sehr gutes und zugleich einfaches Beispiel für Information-Transparency ist die Darstellung der Lernschritte in der App „Duolingo“. Ein weiteres Beispiel ist der „Entwicklungsbaum“ im Spiel „Civilisation“. Beide Beispiele kombinieren die Mechanik „Information Transparency“ mit einer weiteren Mechanik, dem „Path to mastery“ – aber das werde ich in einem anderen Beitrag erklären.

Ein sehr interessanter Ansatz für einen solchen Assistenten war die App „Superbetter“ von Jane McGonigal. Sie wurde vor einigen Jahren für die Begleitung von Reha-Maßnahmen im Gesundheitswesen entwickelt. Jane McGonigal hat dieses Modell weiterentwickelt und dazu ein Buch geschrieben:“ SuperBetter: A Revolutionary Approach to Getting Stronger, Happier, Braver and More Resilient: How a gameful life can make you stronger, happier, braver and more resilient“ – daraus resultierend ist die Superbetter-App aber nicht mehr kostenfrei nutzbar. Wer sich trotzdem damit beschäftigen möchte, kann dies hier tun: https://superbetter.com

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